“Es muss getan werden” – Über Ausdauer und Beharrlichkeit

Wenn wir üben, was tun wir dann? Es ist immer dasselbe: wir zentrieren und verbinden Himmel, Erde und Mensch. Nach unten verbindest du dich mit der Erde, nach oben verbindest du dich mit den Himmeln. Auf diese Weise machst du schon die Arbeit, du machst schon Gong.

Glaubt nicht, dass die Menschen, die mit dem Stehen beginnen – und es wird nicht besser, wenn sie sitzen und meditieren – sich mit dem Himmel und der Erde verbinden. Als Mensch bist du in der Lage, dein menschliches Potenzial zu erreichen, aber das geschieht meistens nicht. Du versuchst nur aufrecht zu sitzen, weil dir jemand sagt: ‚Sitz gerade und beweg dich nicht‘. Aber es gibt nicht wirklich eine Verbindung zu Himmel und Erde.

Wenn du dort sitzt, kannst du eine Menge Aufruhr erleben. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn nicht heute, dann vielleicht morgen. Unruhe, Chaos, die ganze Sache kann sich ziemlich durcheinander anfühlen. Deshalb kannst du nicht still sitzen. All dieser innere Lärm erlaubt es dir nicht, still zu sitzen. Viele von euch werden während der Praxis ziemlich angespannt – was gut ist, denn es bedeutet, dass ihr die Arbeit macht. Alle möglichen Zustände tauchen auf, meist zusammengefasst in: ‚Holt mich hier raus!‘.

Das ist die Arbeit, die zu tun ist. 
Das ist die Art und Weise, wie und wann du beginnst, eine Mitte zu finden.

Die Ordnung im Wahnsinn

Die sitzende oder stehende Haltung im Qi Gong – das ist die äußere Form. Ich lasse dich diese Dinge tun. Der Zweck von all dem ist, dass du dich zentrierst. Wenn wir in der Lage sind, eine Verbindung zwischen dem Oben und dem Unten gut herzustellen, hilft das schon sehr viel. Wenn du eine Mitte herstellst, gibt es eine Richtung. Deshalb musst du richtig sitzen, dein Bestes geben. Die Energie geht überall hin, sie wird zerstreut, sie wird chaotisch, aber du bringst sie weiterhin von der Peripherie in die Mitte. Die Mitte sollte durch Übung und durch Zeit stärker werden: 5 Minuten, 10 Minuten, 5 Stunden, 10 Stunden, 5 Tage, 10 Tage. Du wirst spüren, dass du nicht sitzen kannst, es nicht aushältst. Es wird dich zerreißen. Aber denk daran, du stellst das Zentrum her, fortwährend, du stellst deine eigene Spiralgalaxie her. Du richtest dich auf das Zentrum aus.

Es kann eine ziemliche Herausforderung sein, das wirst du erleben, aber so wird es gemacht. Denn es sind starke Kräfte am Werk. Die Kräfte, die dich zerreißen, sind stark, und die Kräfte, die du versuchst zu etablieren, um das alles zu ordnen, mehr in Richtung Harmonie zu kommen, die müssen auch stark sein. Am Anfang kann man das vielleicht nicht spüren, aber die Formen des Qi Gong sind sehr stark. Die Übungen befähigen dich, diese Arbeit zu tun. Es ist so, wie wenn man mit 100 km/h auf der Autobahn fährt und dann auf die Bremse tritt. Das sind die Kräfte, die man hier erfahren kann.

Mit den Kräften umgehen

Der Prozess ist nicht einfach und wird mit der Zeit auch nicht unbedingt leichter. Je öfter du praktizierst, desto mehr spürst du das Ungleichgewicht und die Dissonanz. Je langsamer du fährst, desto mehr kannst du wahrnehmen. Wenn du mit 40 km/h fährst, spürst du nicht, wie schnell du fährst. Aber wenn man auf die Bremse tritt, weiß man: Wow, das war ganz schön schnell. Gerade bei 40 km/h, also wenn du ziemlich langsam fährst, aber die Bremse voll durchdrückst, spürst du: „Wow, das ist schnell, das sind ja ganz schöne Kräfte“. Wenn du dagegen mit 100 km/h fährst, ohne zu bremsen, merkst du die Geschwindigkeit überhaupt nicht. Jetzt sitzt du lange Zeit still da, und das bedeutet, dass die Bremsen stark beansprucht werden. Weil alles zusammenbricht, willst du etwas tun, du willst weglaufen, aber nein, du sitzt einfach nur da. 

Dann: in den Bauch atmen, das ist es, was du tust. Die Energie würde sich normalerweise zerstreuen, in allen möglichen Handlungen, die wir gewohnheitsmässig tun. Hier lässt du das nicht zu. Du atmest in deinen Bauch und dorthin geht die Energie. Sie wird aufgefangen. Und geordnet. Es ist ein Prozess, und er ist ziemlich tough.

Ordnen, aufräumen, putzen…

So formst du dein Energiefeld, indem du ein Zentrum im System schaffst. Mit viel guter Übung wird die ganze Energie gesammelt und geordnet. Dann sprechen wir davon, eine Kugel zu formen. Es wird immer noch Chaos geben, willkürliche Gedanken und Gefühle und schwierige Erfahrungen, aber obwohl all das immer noch da ist – weil es wahrscheinlich nie wirklich verschwindet -, ist es nicht so wichtig, weil es etwas Größeres gibt, das Zentrum. Die persönlichen Dinge werden kleiner, weniger wichtig.

Es ist wie beim Putzen der Wohnung. Du hast etwas verschüttet. Du gehst hin und machst es sauber. Während du es sauber machst, merkst du, dass da noch mehr ist – nicht von heute, sondern von gestern, aber du hast es nicht bemerkt. Genau so funktioniert es. Wenn du diesen Prozess in Angriff nimmst, willst du nur diesen einen Fleck reinigen, aber dann stellst du fest, dass es immer mehr zu tun gibt, überall. Wenn man seine Wohnung gründlich reinigen will, braucht man in der Regel viel Zeit. Heutzutage leben die Menschen selten länger als 10 Jahre in einer Wohnung. Aber wenn wir sie als eine Metapher für ein Zuhause betrachten, in dem wir wohnen, in dem wir all unsere Erfahrungen und Erinnerungen sammeln, dann gibt es viel zu reinigen. Vielleicht sogar von den vorangegangenen Generationen. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Um nicht zu sagen, für immer. So heißt es jedenfalls. Das ist kein Grund, warum wir es nicht tun sollten.

Die Geschichte der Beharrlichkeit

Es gibt eine wunderbare Geschichte aus dem Daoistischen Kanon, von einem Mann namens Li Bai, der sehr bekannt ist. Er war aufstrebend und widmete sein Leben den spirituellen Werten. Er zog sich irgendwo in die Berge zurück und widmete sich dem Üben. Er übte und übte und übte, und manchmal dachte er, er käme weiter, und manchmal dachte er, er käme nicht weiter.

Genau wie du und ich. Wir sind alle nur Menschen.

Er hat sich viel Mühe gegeben, 20 Jahre, 30 Jahre. Er hat ein bisschen was erreicht, vielleicht. Manchmal dachte er, er hätte etwas erreicht, manchmal dachte er, er hätte nichts erreicht. Und dann, eines Tages, dachte er: Ok, das war’s. Er kam vom Berg herunter. Die Götter sahen das und sagten: ‚Oh, warum hört er auf? Das ist nicht gut, er sollte weitermachen, er hat es gut gemacht. Er muss einfach weitermachen.‘

Aber er ging vom Berg herunter. Also verkleidete sich einer der Götter und nahm die Gestalt einer sehr alten Frau an, vielleicht 400 Jahre alt. Sie – er, der Gott – setzte sich an den Wegrand. Und sie hatte einen Stahlstab, den sie über einen Stein schleifte.

Der Mann kommt, sieht diese alte Dame und fragt sich: „Was ist das?“ Er hat noch nie eine so alte Dame gesehen, sie war sehr schön, aber wirklich alt. Also fragt er: „Was machst du hier? Und sie sagt: ‚Ich mache mir eine Nadel, denn ich will mein Hochzeitskleid nähen.‘

Er antwortet: ‚Das wird aber ewig dauern.‘
Und sie sagt: ,Ja’.
In diesem Moment wurde es ihm klar, und er ging zurück auf den Berg.

Es muss einfach getan werden.

Die unendliche Praxis

Es muss getan werden, nicht im Sinne von ‚fertig‘, sondern als kontinuierlicher Prozess. Wir putzen unsere Wohnung immer so, dass sie fertig ist, aber weißt du was? Sie ist nie fertig. Das wirst du schon herausgefunden haben. Und was tust du dann? Aufgeben? Du machst einfach weiter. Es ist ein Teil einer größeren Geschichte.

Trotzdem kannst du dir ein paar Werkzeuge ausdenken, ein paar Techniken entwickeln. In diesem Prozess darf man nicht völlig verzweifeln. Die Art und Weise, wie man eine Ecke putzt, ist vielleicht nicht die richtige Art und Weise, um unter dem Sofa zu putzen, also kann man nicht immer dieselbe Haltung und dieselbe Bewegung anwenden. Es kann eine Struktur, eine Methode für diesen Prozess geben. Das ist es, was die Daoisten zur Verfügung gestellt haben. Sie haben vor langer Zeit geforscht und es hat immer noch Bestand. Das ist eine Hilfe, die wir nutzen können, denn die Arbeit ist nicht einfach. Diese Menschen haben bereits einen Weg beschritten, dem wir folgen können.

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