– Entnommen aus einem Vortrag von Ron Timm, Bagua Retreat, März 2024 –
Es gibt eine berühmte Figur von Guanyin, einer daoistischen chinesischen Göttin, die die Inkarnation von Avalokiteshvara, dem ursprünglichen Buddha, und allen Bodhisattvas ist. Du hast sicher schon einmal eine Statue mit vielen Armen und Händen gesehen. Jede Hand hat eine andere Geste oder hält etwas anderes, einen Lotos, eine Vase….In gewisser Weise ist sie ein schönes Beispiel für die Vielfalt der Formen, für die Hunderte von verschiedenen Positionen im Qi Gong.
Es gibt das Zentrum und darum herum tausend Arme. Wie in der Qi Gong-Praxis: Du nimmst eine Haltung ein, deine Arme sind in einer bestimmten Position. Wenn du eine andere Haltung einnimmst, werden deine Arme auf eine andere Weise positioniert, und wenn du eine weitere Haltung einnimmst, können deine Arme auf eine weitere Weise positioniert werden – irgendwann werden sie alle diese Positionen eingenommen haben. Genau wie auf dem Bild der Göttin, auf dem sie alle auf einmal zu sehen sind.
Das Erscheinen der Form
Indem du verschiedene Haltungen einnimmst und übst, formst du dein Energiefeld, und zwar in Bezug auf das Zentrum. Gleichzeitig zeigt es auch dein Potenzial, dass du offen und fähig bist, diese Haltungen einzunehmen. Du kannst all diese Formen einnehmen. Das ist ziemlich wundersam, denn wenn du darüber nachdenkst, gibt es da draußen nichts. Meistens nur Raum. Es gibt Millionen oder Billionen, ich kenne die genaue Zahl der Galaxien nicht. Das heißt aber nicht, dass es viele sind, denn ihr Erscheinen ist immer noch extrem selten. Ich weiß nicht, ob du das verstehst, aber es wäre gut, wenn du das tust, denn dann verstehst du den Zusammenhang und die Dimensionen dieses Prozesses.
Es gibt Billionen von Galaxien, aber es ist extrem selten, dass sich eine Galaxie bildet. Denn in den Weiten des Weltraums gibt es so gut wie nichts. Was sollte dort jemals passieren? Nichts. Dass überhaupt etwas passiert, ist extrem selten. Und dass diese Praxis stattfindet, noch viel mehr. Nicht viele Menschen nehmen sie auf, die meisten werden darüber lachen. Im Dao De Jing steht, dass ein gewöhnlicher Mensch, wenn er vom Dao hört, zu lachen beginnt. Wenn der normale Mensch nicht lachen würde, wäre es nicht das Dao.
Die Rolle der Form im Qi Gong
Manche Menschen nehmen es aber dennoch auf und praktizieren es. Man könnte sagen, dass die Praxis in ihrer einfachsten Form darin besteht, ein starkes Zentrum zu schaffen und es immer stärker zu machen. Das ist eigentlich alles, was du tust. Wir haben unsere Tricks, Formen und Praktiken, und dann sitzt du einfach nur da und lässt es geschehen.
Das ist der Moment, in dem ich sage: Mach die Übung. Oder besser: Lass die Übung wirken. Denn du bringst dich in eine Position, das ist die Übung. Dann lässt du sie wirken. Den Rest machen die Übungen. Die Form macht es. Du musst dich nur entspannen, damit es klappt.
Meistens ist die Übung selbst gar nicht so schwierig. Du musst nichts tun. Bring einfach deine Arme in eine bestimmte Position. Das ist ganz einfach. Dann lass die Übung wirken. Das ist der Moment, in dem du dich wirklich entspannen sollst, damit es geschehen kann. Weil du aber durch dein Stillhalten das Nervensystem ausbremst, sind starke Kräfte im Spiel. Du musst also aufpassen, dass du die Bremse nicht zu stark drückst. Denn wenn du in einem Graben landest, hilft das nicht. Du fragst dich also: Okay, wie stark? Und für wie lange? Das sind gute Fragen.
Die Sache ist die: Je verrückter du in der Position wirst, desto weniger kann sie dich harmonisieren und zentrieren. Wenn die Form es dir nicht mehr erlaubt, dich zu entspannen, bist du zu weit gegangen. Es ist wirklich wichtig, das zu erkennen. Denn wenn du dich nicht entspannst, kann die innere Arbeit nicht stattfinden. Die ganze Sache ist dann gestört. Und wenn sie gestört ist, gibt es noch mehr Chaos. Wenn du dem Chaos noch mehr Chaos hinzufügst, bringt das leider nicht mehr Ordnung. Wenn du mehr Spannung zu der bereits vorhandenen Spannung hinzufügst, bringt das nicht weniger Spannung. Du musst für dich selbst herausfinden, wie viel du aufnehmen und trotzdem die Arbeit erledigen kannst. Das ist eigentlich eine bestimmte Fertigkeit.
IInneres Zuhören
Dafür musst du eine Veränderung der Wahrnehmung zulassen, das ist das Wichtigste. Besonders wenn wir aufhören, uns zu bewegen, wenn wir in die Stille gehen, geht der innere Prozess weiter, aber er ist subtil, und subtile Wahrnehmung ist nicht die Norm. Wir merken oft nicht, was vor sich geht.
Die Dinge gehen vor sich, aber du nimmst sie nicht wahr, weil deine Wahrnehmung nicht fein genug ist. Was nicht ganz richtig ist: Sie ist vielleicht fein genug, aber es ist, als würdest du in die falsche Richtung schauen. Du denkst, vielleicht sollten die Engel singen oder Gott spricht zu dir oder so etwas. So ist es aber nicht, es ist viel subtiler. Bleib einfach da und mach die Übung weiter, lass die Übung weitergehen. Du tust nichts und das bedeutet, dass du auch nichts verhinderst, was passiert. Das ist sehr wichtig.
Während die Übung weiterläuft, frage ich dich auch, deine Wahrnehmung so weiterlaufen zu lassen, wie sie in der Übung ist, denn du hast dort eine bestimmte Art von Wahrnehmung. Du hast nicht deine normale, alltägliche Wahrnehmung, wenn du in die Qi Gong-Übung gehst. Du schaltest deine Wahrnehmung um, und ich frage dich, sie so beizubehalten.
Kultivierung neuer Gewohnheiten
Der Meister erzählte damals immer diese Geschichte über eine Art von wilden Hühnern, Rebhühner, die nicht so spektakulär sind, nur braun und hässlich. Die können nicht wirklich fliegen, aber sie sind Vögel. Also tun sie, was sie tun, aber wenn sie dann den Adler sehen, sagen sie immer: ‚Wow!‘. Sie hüpfen nur komisch herum, aber manchmal fragen sie sich: „Wenn wir Vögel sind, müssten wir doch auch fliegen können wie der Adler, oder?”
Es ist aber nur ein Traum, während sie herumhüpfen. Dann sagen sie eines Tages: ‚Lasst uns den Adler einladen, ein Retreat machen, er soll uns das Fliegen beibringen.‘ Der Adler kommt, okay, und kassiert natürlich ab. Eine Woche Üben. Okay, zuerst machst du das. Am zweiten Tag machst du jenes. Am dritten Tag tust du dies. Und mehr und mehr. Und am letzten Tag: Alle Rebhühner fliegen. ‚Wow, wow, wir sind Vögel!!‘
Dann ist das Retreat zu Ende. Der Adler sagt: ‚Okay, danke, bye-bye‘ erhebt sich in die Luft und fliegt weg. Die Rebhühner meinen: ‚Okay, lasst uns nach Hause gehen.‘ Und fangen an, zurück zu hüpfen. Hüpf, hüpf, hüpf. Das ist also die Sache.
Lass es weitergehen. Kehr nicht in die alte Gewohnheit zurück, in das Gewohnte, Normale. Du musst deine Wahrnehmung ändern, aber glaube mir, du hast es in dir. Die Übung kann nichts Neues bringen, sie bringt nur die Dinge zum Vorschein, die schon da sind. Es ist wie bei Michelangelo, der sagte, dass die Statue von David bereits im Stein war. Er hat sie nur herausgeholt. Sie ist da, du musst nur die Wahrnehmung verändern.Wir sehen nur den Stein, aber Michelangelo hat David gesehen.
Der Weg der Rückkehr
Genauso will das Qi auf bestimmte Weise fließen. Wenn Qi fließen will, und wenn es fließen würde, wäre das immer natürlich. Das Muster ist bereits vorhanden. Deshalb frage ich dich, dort zu sitzen und nichts zu tun, wenn du kannst, aber wer kann schon nichts tun? Wir tun immer etwas. Wenn du wirklich nichts tun würdest, würdest du zum natürlichen Zustand, dem Ursprung, zurückkehren. Aber das ist nicht so einfach. Deshalb gibt es die Form und die Unterweisung:
Richte dich aus.
Bleibe in der Stille.
Lass es sich entfalten.
Du übst dich in Stille. Und alles kehrt zum Ursprung zurück. Die Natur des Dao ist es, zurückzukehren.