– Auszug aus Ron Timms Vortrag auf dem Neujahrs-Meditations-Retreat, Dezember 2024 –
Hier sitzen , hier stehen, das Üben der Stille.
Im Chinesischen lautet der traditionelle Begriff für diese Praxis Zuo Wang, was „sitzen und vergessen“ bedeutet. Man könnte also sagen: einfach weiter vergessen, vergessen und vergessen, bis du vergessen hast, was du vergessen hast. Es ist ein Prozess des Leerwerdens. Eigentlich ist es ein Reinigungsprozess. Auf dem Weg zur Stille geschieht die Arbeit durch Reduktion.
Deshalb sitzen wir still, stehen wir still, verringern äussere Aktivität. Wir dimmen das Licht im Übungsraum, um äussere Reize zu reduzieren. Wir wenden die Sinne nach innen. Ich meine, Stille – und die Kultivierung von Stille – ist nichts anderes als: weniger, weniger, weniger. Was – und das muss man sich bewusst machen – der Gesellschaft und der Zeit, in der wir leben, entgegensteht: mehr, mehr, mehr.
Der Meister sagt, es gebe nur vier Dinge, die im Leben wirklich wichtig sind:
Wichtige Dinge: Geburt
Zuerst ist es wichtig, geboren zu werden. Man denkt vielleicht: „Ja klar, sonst würdest du ja nicht hier sitzen, könntest nicht mit mir sprechen.“ Ja, aber in der östlichen Tradition sagt man auch: Man kann viele Male geboren werden. Man kann wiedergeboren werden. Wenn man über Wiedergeburt spricht, denken viele an das Leben nach dem Tod oder Reinkarnation – und schon sind wir beim Thema Tod, das ebenfalls wichtig ist. Aber du kannst auch in diesem Leben wiedergeboren werden. Und das ist etwas, worauf du Einfluss hast.
Du kannst wiedergeboren werden, wenn du dein Leben vollständig veränderst. Oder wenn das Schicksal dein Leben verändert – dann musst du wiedergeboren werden. In anderen Kulturen gibt es das Konzept der spirituellen Wiedergeburt: Du wirst in diese Welt hineingeboren, und dann beginnst du deinen spirituellen Weg – das ist die Geburt in die Welt des Geistes, in eine andere Realität. Aber du kannst auch jeden Tag wiedergeboren werden, jeden Morgen – wenn du nicht schon zu viel weisst. Nicht, wenn du denkst: „Ich weiss eh schon, was kommt. Hab ich alles schon gesehen.“ Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wirst du heute überrascht.
Ein Beispiel: Der Meister hat oft in der Schweiz unterrichtet – dort habe ich ihn kennengelernt. Wann immer er eingeladen wurde, wollten die Leute ihm etwas zeigen, ihn ausführen. Und sie gingen immer mit ihm aufs Jungfraujoch. Das Jungfraujoch ist der höchste Punkt, den man mit der Bahn erreichen kann – also für alle zugänglich, über 4000 Meter hoch, aber sehr teuer. Wunderschön, aber voller japanischer und chinesischer Touristen, die ein Foto machen und wieder runterfahren. Jeder wollte ihm das Beste zeigen, also ging es immer aufs Jungfraujoch.
Er war laut eigener Aussage bestimmt hundertmal dort. Denn wenn man ihn fragte: „Waren Sie schon mal auf dem Jungfraujoch?“, sagte er immer: „Nein.“ – „Wollen Sie mitkommen?“ – „Ja, natürlich.“
Und jedes Mal sagte er dann: „Oh, wow! Noch nie gesehen. Erstaunlich. Vielen Dank.“ Ja, zum einen ist das chinesische Kultur – man will den Gastgeber nicht enttäuschen. Also geht man hundertmal aufs Jungfraujoch. Aber es war auch seine Haltung: Heute war er eben noch nicht dort – also los! Es ist jedes Mal anders.
Wichtige Dinge: Tod
Wenn die Geburt wichtig ist, ist der Tod es ebenso. Was immer wir tun – so sagt der Meister – wir müssen uns auf das Sterben vorbereiten. Denn das ist das nächste grosse Ereignis. Und du weisst nicht, wann es kommt.
Menschen essen gesund, weil sie ein langes Leben wollen. Aber eigentlich tun sie es, weil sie Angst vor dem Tod haben. Du kannst so gesund leben, wie du willst – was ich übrigens sehr empfehle – aber du wirst trotzdem sterben. Du denkst vielleicht: „Wenn ich gesund lebe, lebe ich länger.“ Vielleicht. Aber das bedeutet nur: Du hast länger Angst vor dem Tod. Am Ende kannst du von einem Auto überfahren werden und sterben. Du kannst nicht sagen: „Moment mal, ich hab mich doch gesund ernährt! Da stimmt was nicht.“ Das sind unsere Konzepte: Du denkst, gesunde Ernährung bedeutet ein langes Leben. Nein. Gesunde Ernährung bedeutet – gesunde Ernährung. Punkt.
Der Tod ist wichtig. Und ich gebe dir einfach die Worte des Meisters weiter. Für westliche Menschen ist der Tod wichtig, und auch ein langes Leben ist wichtig. Und das Wichtigste ist: dass du morgen stirbst, nicht heute. Für westliche Menschen ist das „wann“ entscheidend. Und das ist klar: später. Man stirbt später, nicht heute.
Aber niemand ist je später gestorben. Alle sind heute gestorben.
Also: Der Tod ist wichtig. Und das Entscheidende beim Tod ist nicht, wann du stirbst – denn darauf hast du keinen Einfluss, du weisst es nicht einmal. Was weisst du? Dass du stirbst. Und wenn du ein bisschen mehr wissen willst: Es ist heute.
Du stirbst nie morgen. Du stirbst nie gestern. Du stirbst immer heute.
Nimm das mit in deine Meditation.
Du stirbst heute. Also ist beim Tod nicht das Wann wichtig, sondern das Wie. Das ist etwas, worauf du Einfluss hast. Du kannst nichts am Zeitpunkt ändern. Aber wenn du erkennst, dass du heute stirbst, kommst du zu dem, was dein Teil ist: Sorge dafür, wie du stirbst. Das ist eine grosse Aufgabe.
Wichtige Dinge: Liebe
Jetzt – Liebe. Offensichtlich.
Ich möchte nicht zu tief darauf eingehen.
Wir reden über Liebe, aber nicht über romantisches Zeug, das, was man im Fernsehen, in Hollywood sieht – das hat mit echter Liebe nicht viel zu tun.
Am Ende hassen sich Menschen. Wegen Liebe. Sie töten sich – wegen Liebe.
Das ist absurd.
Auch das: Eine grosse Frage für die Meditation.
Was ist Liebe?
Und am besten wäre es, wenn du nicht so viel darüber weisst.
Denn das meiste, was wir über Liebe „wissen“, ist ziemlich verdorben.
Also: Geburt, Tod, Liebe …
… und das Wetter.
Wichtige Dinge: das Wetter
Das ist dann meist eine Überraschung. Wie – Was? Aber ja: Es ist wichtig.
Wahrscheinlich das Wichtigste. Denn Wetter steht für Natur und ihre Zyklen. Und das ist: Leben, Tod und Liebe. Es steht für Spontaneität und für das Ungewisse. Und das ist: Leben, Tod und Liebe. Sie sind ungewiss. Aber wir wollen Garantien. Wir wollen die Garantie auf Leben. Die Garantie auf Liebe. Die Garantie, dass wir nicht sterben.
Und dann ist da das Wetter. Es verändert sich einfach. Und es ist nie so, wie du dachtest, dass es sein sollte, sein würde. Das zeigt, wie sehr wir uns von der Natur entfremdet haben. Wir wissen nichts mehr über die Ungewissheit der Natur und ihrer Prozesse. Aber das ist sehr wichtig. Denn die Prozesse, die wir in der Praxis anstossen, sollen ganz natürlich werden.
Deshalb gibt es gute Tage und schlechte Tage.
Manchmal klappt es.
Manchmal scheint nichts zu funktionieren.
Und alles davon ist notwendig.
Darum zwingst du nichts und meidest nichts.
Je mehr du willst, je mehr du drückst – desto verzerrter, desto seltsamer wird es.
Wie bei Geburt, Tod, Liebe und dem Wetter.
Es gibt Sonnentage. Es gibt Regentage.
Du übst.